Piz Corvatsch (3451m)

31. August – 01. September 2024

Die alljährliche Tourenführerbesprechung zur Zusammenstellung des Tourenprogramms in der Ortsgruppe steht bald wieder an und ich befinde mich wieder einmal auf der Suche nach lohnenswerten Gipfelzielen jenseits der 3000er Marke. Da fällt mir was ein: Wir waren doch letztes Jahr am Piz Bernina unterwegs und von Westen herüber war da ständig die langgezogene Kette des Corvatsch-Kammes zu sehen. Das wär doch was. Ein Blick in die Schweizer Landeskarte Piz Bernina 1:25000 lässt viel wegloses Gelände vermuten, das verspricht eine spannende Geschichte zu werden! Ich reserviere eine Nacht auf der Coaz-Hütte und dann schauen wir mal, was passiert. Tatsächlich, es melden sich zwei recht klettergewandte Teilnehmer an und ehrlichgesagt hatte ich mir die komplette Tourenplanung bis zum Tag vor der Abfahrt offengehalten, es gab, was ich zu meiner Schande gestehen muss, auch nicht wirklich eine Tourenbeschreibung im Programm. Umso besser, denn jetzt stehen uns alle Möglichkeiten, uns in der westlichen Berninagruppe auszutoben, offen. Unser Startpunkt nach sehr frühem Aufbruch in Steingaden ist am frühen Vormittag Sils Maria (1809m), idyllisch gelegen zwischen Silvaplanasee und Silser See am Ausgang des Val Fex. Die nun gewählte Anstiegsroute zur Coaz-Hütte ist zugegebenermaßen etwas eigenwillig, befinden wir uns doch komplett in einem anderen Tal, aber das macht die Würze des Tages aus: Über Marmoré (2202m) und die Alp Munt (2439m) geht’s immer hoch überm Val Fex in aussichtsreicher Lage hinein bis zum Lej Sgrischus (2618m, aus dem rätoromanischen übersetzt: schauriger See). Ach übrigens, die Wettervorhersage: traumhaft für diesen Samstag, für Sonntag ein kleiner Wermutstropfen, damit´s nicht langweilig wird: schwere Gewitter im Laufe des Nachmittags. Aber wir haben ja erst Samstag und der nächste Tag ist noch weit weg… Am Lej Sgrischus endet dann der Weg und wir finden uns ab jetzt endlich im führungstechnisch interessanteren Teil des Tages wieder: Es geht weglos weiter zum Lej Alv (2639m, weißer See) und über Blockwerk das immer steiler werdende (zuletzt 40°) Kar zur Fuorcla Fex-Roseg (3068m) hinauf, wo sich der Blick fantastisch weitet hinüber zu Piz Roseg (3937m), Piz Bernina (4049m), Piz Morteratsch (3751m) und den davorliegenden Eismassen des Vadret da Roseg, Vadret da la Sella sowie des Vadret da Tschierva

Hier steht jetzt die Entscheidung an: einfacher Abstieg zur Coaz-Hütte oder doch nach Süden am Grat entlang? Wir entscheiden uns für die interessantere Variante und nehmen den Piz dal Lej Alv (3197m) und den Il Chapütschin (3336m) sowie einige dazwischenliegende namenlose Graterhebungen in leichter Kletterei (II) noch mit. Dort oben schon ein fantastisches Panorama in der schon recht tief stehenden Sonne! Die einzig sinnvolle Möglichkeit, von hier zur Coaz-Hütte zu gelangen ist der weitere Abstieg am Grat in die Fuorcla dal Chapütachin und am Übertritt zum unterhalb befindlichen Roseg-Gletscher wird uns schön langsam klar, das wird ganz schön spät, bis wir auf der Hütte ankommen. Vorsichtshalber noch ein Anruf bei der netten Hüttenwirtin getätigt, dass uns von der Halbpension auch wirklich noch was übrig bleibt und keiner sich um uns Sorgen machen muss und schon geht’s hinab am westlichen Gletscherrand, bis nach einer Spaltenzone ein Übertritt auf die Felsen möglich ist. Fast noch pünktlich um halb 8 erreichen wir im letzten Tageslicht die Hütte und wir haben schon so viel erlebt und gesehen, dass es uns vorkommt, als hätten wir die ganze Tour des Wochenendes schon hinter uns, derweil steht das eigentliche Gipfelziel am nächsten Tag erst an! Die Hüttenleute empfangen uns ausgenommen herzlich und so wird es noch ein recht netter Abend. Am zweiten Tag sieht uns die Fourcla Fex-Roseg dann im ersten Morgenlicht schon zum zweiten Mal, diesmal nach dem Aufstieg von der anderen, der östlichen Seite, eben aus dem Roseg-Tal. Das Wetter zeigt sich zu dem Zeitpunkt noch recht unschuldig und harmlos, uns steht von hier jedoch die komplette Gratüberschreitung nach Norden bis zur Fuorcla Surlej (2755m) bevor, die immerhin 5km Luftlinie (!) und einige recht knackige Erhebungen und Scharten bereithält (Kletterschwierigkeit bis III). Auf der Strecke bis dahin gilt es erstens, das Wetter genauestens im Auge zu behalten, damit es am Nachmittag keine im wahrsten Sinne des Wortes „spannenden Überraschungen“ gibt und zum anderen, eine Umkehrzeit sowie einen Notabstiegspunkt zu wählen, wozu sich einzig nur die Fuorcla dal Lej Sgrischus (3232m) nach Westen eignet, alle anderen Varianten stellen sich nämlich tatsächlich als ziemlich schaurig heraus, bricht doch der gesamte Grat nach Osten fast senkrecht in sehr brüchigem Gelände zum Roseg-Tal ab. Unser „point of no return“ wird also die besagte Fuorcla dal Lej Sgrischus und so wagen wir das Abenteuer. Wir halten uns meist am Grat, manche Türme auf der Ostseite umkletternd immer Richtung Norden und bald passieren wir die Crasta dal Lej Sgrischus (3304m) sowie die darauffolgende gleichnamige Einschartung. Ab hier gibt’s keine Umkehrmöglichkeit mehr, der Grat bis zum Piz Corvatsch zieht sich noch ganz schön in die Länge, aber das Wetter hält. Überglücklich und herzensfroh erreichen wir gegen die Mittagszeit den Gipfel des Piz Corvatsch auf 3451m. Mir selbst fällt ehrlichgesagt auch ein ganz schöner Stein vom Herzen, denn der weitere Weg – ein Gipfel, nämlich der Piz Murtel ist noch zu überschreiten – gestaltet sich recht einfach und die im Zweifelsfalle rettende Bergstation der Corvatschbahn auf 3300m liegt bald in greifbarer Nähe. Unsere Notlösung, mit der Corvatschbahn hinunterzufahren, verwerfen wir alsbald einstimmig, nachdem das Wetter sich auch nachmittags noch von seiner besten Seite zeigt. Am Rande des Vadret dal Corvatsch steigen wir, immer noch in weglosem Gelände, bis zur Fuorcla Surlej ab, von wo uns der Weg um den gesamten Bergstock im Norden herum, immer in leichtem Abstieg zurück nach Sils Maria führt. Und mag man´s glauben oder nicht, das Wetter hat noch den ganzen Nachmittag gehalten, so dass es am Schluss sogar noch für ein erfrischendes Bad im Silvaplanasee gereicht hat – manchmal braucht ma halt au a bissl Glück!

Im Nachhinein betrachtet war diese Alpenvereinstour, welche immerhin die komplette Gratüberschreitung vom Il Chapütschin bis zum Piz Murtel, wenn auch in zwei Etappen, beinhaltet hat, die schönste und eine der ereignisreichsten, die ich in den letzten Jahren organisiert hatte, trotz, oder vielleicht gerade wegen der vielen spannenden Unwägbarkeiten, denen wir an den zwei Tagen begegnet sind. Und natürlich, und das lässt sich im Nachhinein beruhigt sagen, weil alle glücklich und gesund wieder heimgekehrt sind. Ich bin mir sicher, dass sich alle, die dabei waren, ihrer Lebtag an dieses Wochenende erinnern werden!

Niko Fischer

AV-Sektion Peiting, Ortsgruppe Steingaden